Berliner Morgenpost | Digitales Themenheft | Berliner Originale
11 dann nicht so fest auf dem Herzen.“ Sie spricht bedächtig und leise. Manchmal wird ihre Stimme zu einem Flüstern – wenn sie berichtet, wie in Theresienstadt Züge aus Auschwitz ankamen und ihr als Hilfskranken- schwester fast verhungerte oder be- reits gestorbene Menschen entgegen- fielen oder wenn sie sagt, dass ihr in diesem Moment bewusst wurde, dass sie ihre Mutter und Ralph nie wieder- sehen würde. Wir hören ihr gebannt und sehr gern zu. Obwohl ihre Ge- schichte so grauenhaft ist. Sie erzählt einnehmend, ihre große Persönlich- keit schüchtert die Zuhörer nicht ein. Margot Friedländer ist freundlich und zugewandt. Sie nimmt ihre Wirkung nicht so wichtig. Als ihre Freundin, die Bundestagsabgeordnete Monika Grütters, sagt, auch die Schülerinnen und Schüler, mit denen sie spricht, würden ihre Aura spüren, winkt Mar- got Friedländer ab. „Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, was ich ihnen sage. Was sie verstehen und was sie fühlen können.“ In New York arbeitet Margot Fried- länder nach dem Krieg unter anderem als Änderungsschneiderin und Reise- agentin. Ihr Mann ist einer der Direk- toren des jüdischen Kulturzentrums 92Y. „Wir hatten ein gutes Leben in Amerika. Aber ich war dort nie wirk- lich zu Hause. Wir waren Europäer geblieben“, erzählt sie. 1997 stirbt Adolf Friedländer. Nach seinem Tod besucht sie einen Seniorenkursus für biografisches Schreiben Eine ihrer ers- ten Geschichten handelt von der Be- freiung des KZ Theresienstadt. Durch ihre Texte wird ein Dokumentarfilmer auf sie aufmerksam und überzeugt sie, einen Film über ihr Leben zu machen – und dafür auch in Berlin zu drehen. 2003 nimmt Margot Friedländer die Einladung des Berliner Senats an, ihre Heimatstadt zu besuchen. Als sie dann zum ersten Mal seit dem Krieg wieder nach Berlin kommt, be- kennt sie: „Ich bin froh, in einer so schönen Stadt geboren worden zu sein. Wenn ich jünger wäre, würde ich hierher ziehen.“ Sieben Jahre später löst sie binnen vier Wochen ihren New Yorker Haushalt auf und siedelt nach Berlin über – mit 88 Jahren. „Berlin ist meine Heimat. Ich wusste, es gibt gute Deutsche. Sie haben mir geholfen, als ich im Untergrund lebte. Deutsche, Christen, haben damals ihr Leben ris- kiert, haben ihr Bett und ihr Essen mit mir geteilt“, entgegnet sie Freunden, die ihre Entscheidung kritisieren, ins Land der Täter zurückzukehren. „Weil ich die Menschen liebe“ Kurz darauf erscheint ihr autobio- grafisches Buch, seitdem verfolgt sie ihre Mission. Unermüdlich, auch mit 102 Jahren. Wie hat sie es geschafft, nicht bitter zu werden? „Weil ich Menschen liebe. In jedem Menschen ist etwas Gutes. Das muss man neh- men. Es macht mir Mut, so viele liebe Menschen kennengelernt zu haben.“ Margot Friedländer hat ihr Leben ge- macht, auf eine einzigartige Weise. Ihre Mutter wäre stolz auf sie. Mit der Auszeichnung „Berlinerin des Jahres“ verbindet „Berliner helfen“, der gemeinnützige Verein der Berliner Morgenpost, eine Spende an die Mar- got-Friedländer-Stiftung in Höhe von 5000 Euro. Margot Friedländer in ihrem Schöneberger Appartement. Foto: Foto: Maurizio Gambarini/FFS
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