Berliner Morgenpost | Digitales Themenheft | Berliner Originale
9 BERLINER ORIGINALE zu berichten. Ihre Mission: Sie möch- te ihren Zuhörern, vor allem Schüle- rinnen und Schülern, die Hand rei- chen und sie davon überzeugen, dass niemals wieder geschehen darf, was den Juden und anderen Verfolgten unter den Nazis angetan wurde. Ihr ebenso deutlicher wie einfacher Ap- pell: Seid Menschen! Ihre Botschaft ist klar: Der Hass führte zum Holo- caust, nur Menschlichkeit bewahrt uns davor. Margot Friedländer wird am 5. No- vember 1921 in Berlin geboren, ihre jüdische Familie gehört zum gutsitu- ierten Bürgertum. Im August 1925 kommt ihr Bruder Ralph zur Welt, 1937 lassen sich die Eltern schei- den. Margot und Ralph leben bei der Mutter, erst in Wilmersdorf, dann in Kreuzberg. Sie versuchen mehrmals auszuwandern, doch alle Versuche scheitern. Der wohl einschneidendste Tag in Margot Friedländers Leben ist der 20. Januar 1943. Am Abend dieses Tages wollen sie, ihre Mutter und Ralph mit dem Zug nach Oberschlesien flüch- ten, in ein als relativ sicher geltendes Lager, in dem bereits Verwandte un- tergebracht sind. Doch am Vormittag stürmt die Gestapo die Wohnung an der Skalitzer Straße, schafft Ralph fort. Margot kommt erst später und erfährt von einer Nachbarin, was ge- schehen ist. Und dass ihre Mutter ebenfalls nicht dabei war und nun bei Bekannten warten würde. „Versuche, dein Leben zu machen“ Die junge Frau läuft zu deren Wohn- haus, doch ihre Mutter ist nicht mehr dort. Sie hat sich entschlossen, sich zu stellen und mit Ralph zu gehen – wohin auch immer. Ihrer Tochter hin- terlässt sie nur eine kurze mündliche Nachricht, die ihr nun die Bekannte übermittelt: „Versuche, dein Leben zu machen“. In ihrem Buch beschreibt Margot Friedländer ihr Entsetzen: „Ein grausamer Satz, hart und gleich- gültig. Kalte Worte aus dem Mund fremder Leute.“ Der Satz hat ihr Leben geprägt. Und er hat sie in einen jahrzehntelangen Zwiespalt gestürzt: Einerseits fühlte sie sich von ihrer Mutter im Stich ge- lassen, andererseits hat ihr der Appell eine Zukunft gegeben. Hätte ihre Mut- ter gewartet, Margot wäre mit ihr ge- gangen. Das wussten beide. Noch etwas gibt ihr die Nachbarin: die Handtasche ihrer Mutter, darin ein Adressbuch und eine Kette aus mattpolierten gelben Bernsteinen. An jenem 20. Januar 1943 taucht die 21-Jährige unter. 15 Monate lang lebt sie versteckt in Berlin, muss an- dauernd ihre Unterkunft wechseln, insgesamt 16 Mal. In ständiger Angst, entdeckt zu werden. Ende April 1944 sprechen sie schließlich zwei jüdische Greifer im Dienst der Gestapo in der Joachimstaler Straße an. Sie ent- schließt sich, die Wahrheit zu sagen: „Ich bin jüdisch.“ In ihrem Buch schreibt sie dazu: „In- dem ich es aussprach, war ich wieder mit dem Schicksal meiner Familie und aller anderen Juden vereint. Was immer jetzt mit mir geschehen wür- de, ich war nicht mehr allein. Aus dem Ich war wieder ein Wir gewor- den. (…) Jeden Tag (im Untergrund, die Red.) hatte ich mich schuldig gefühlt. Hät- te ich doch mit meiner Mutter und meinem Bruder gehen sollen? Dann wüsste ich wenigstens, was mit ihnen geschehen war.“ Erst Monate später wird ihr klar, dass ihre Mutter und Ralph nicht mehr leben. Sie wurden nach Auschwitz deportiert und schon bald nach ihrer Ankunft in den Gas- kammern ermordet. Margot Friedländer. Foto: dpa
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